GIMME SHELTER

– a real art installation in urban space

Rote Skulptur N°4 – 2019 Mixed Media (Beton, Papier) 310x120cm

 

VISIONEN ZUR KUNST

GIMME SHELTER ist eine Intervention des Künstlerkollektivs ’Brücke Brandenburg’ in Zusammenarbeit mit dem Werbeflächen-Betreiber Wall AG in Berlin. Die Künstler bemächtigen sich der Werbeflächen und organisieren die gigantische Installation GIMME SHELTER, die sich über die ganze Stadt ausbreitet: 2000 Litfaßsäulen in allen Stadtteilen werden für die Dauer der Ausstellung in monochromen Farben abgeklebt und stehen für Plakate nicht mehr zur Verfügung.
Die stadtweite Intervention soll von allen Bürgern erfahren werden, nicht nur von Kunstinteressierten beim Galerie-Hopping — deshalb der immense Aufwand wirklich alle beklebaren Säulen der Stadt miteinzubeziehen. Jeder, der auf die Strasse geht, soll seine Kunsterfahrung machen. Die zweckentleerten Litfaßsäulen zwingen zum Wahrnehmungswechsel. Die Säulen schweigen und behaupten ihre skulpturale Objekthaftigkeit. Von Information entleert, wandeln sie sich zur individuellen Projektionsfläche jedes Betrachters. (Und das früh morgens auf dem Weg zur Arbeit!)

Chris Valentien dankt dem Senat Berlin und der Wall AG für die grosszügige Bereitstellung der Installationsflächen.

 

 


BENDING THE REALITY

Es ist wohl die grösste Kunstinstallation im öffentlichen Raum, die die Stadt jemals gesehen hat. Oder kann man es schon ’land art’ nennen? Über 2.000 Litfaßsäulen werden ohne Ankündigung, quasi über Nacht, einfarbig abgeklebt. Ohne Erklärung stehen Passanten vor einem plötzlich sinnentleerten Baukörper, der keine Information mehr trägt. Reduziert auf ihre reine Form behauptet sie ihre skulpturale Objekthaftigkeit. Ihre Message ist jetzt eine andere, sie ist nicht mehr Werbeträger, sondern das reine Sein, das sie mit denkmalartiger Standhaftigkeit zur Schau stellt. Die bunte Verkaufsfläche ist monochromer Leere gewichen, die jeden Betrachter anregt, mit eigenen Inhalten füllen. So das Konzept des Künstlerkollektivs ’Brücke Brandenburg’, das GIMME SHELTER entwickelt hat und damit allen Bewohnern der Stadt ein Geschenk machen möchte, nämlich Kunst zu erfahren. Keine Mühen werden gescheut, kein Aufwand ist zu gross, die Künstler haben sich zum Ziel gesetzt, ihre Kunst in wirklich jede Ecke der Stadt zu tragen.

Über die Ausstellungsdauer von zwei Monaten haben sie die Litfaßsäulen zum schweigen gebracht. Die erzwungene Leere im öffentlichen Raum wirft Fragen auf. Wenn hier Sozialkritik geübt werden möchte, wie lautet die Message?

 

TITEL THESEN TEMPERAMENTE

Der Ausstellungstitel GIMME SHELTER ist popkulturell besetzt (durch den Rolling Stones Song und dem gleichnamigen dokumentarischen Musikfilm über die berüchtigte ’69 Tournee) und gleichzeitig ein höchst aktueller Hilferuf all jener, die kein Zuhause haben.
Die Litfaßsäule wurde in Berlin erfunden, sie gehört zu der Stadt, wie das Brandenburger Tor und der Fernsehturm. Seit 150 Jahren bekleidet sie ein Aufgabe, die niemand wagt in Frage zu stellen.
Das Sozial-Experiment von ’Brücke Brandenburg’ beraubt die Säulen ihrer Aufgabe; sinnentleert und arbeitslos stehen sie in der Gegend herum, als hätten sie alles verloren. Bezieht sich der Ausstellungstitel auf den Hilferuf der Säulen, die keinen Platz mehr in der Gesellschaft haben? Die Entwurzelung der Säule als Metapher für die vielen Wohnungs-, Arbeits- und Schutzsuchenden mitten unter uns?
Die Künstler halten das für möglich, bieten aber noch andere Deutungswege an: Was, wenn mit ’shelter’ ganz pragmatisch ’Wohnraum’ gemeint ist, und die Säulenverhüllung auf den derzeitigen Wohnung-Notstand hinweist? Jede einzelne Säule besetzt einen Teil an Grundstücksfläche. Ist es vielleicht denkbar, den Hohlraum in einer Säule so zu gestalten, dass er Schutz bietet? Die Litfaßsäule als Sozialangebot der Werbetreibenden, mit 2000 trockenen Unterständen wäre allen Obdachlosen dieser Stadt geholfen.

Die Künstler gehen noch weiter und schreiben den monochromen Säulen sogar therapeutische Wirkung . “Sich in die einfarbige Leere zu vertiefen, kommt einer spirituellen Erfahrung gleich. Eine Säule, die nichts will, die nur IST, hat eine eigenartig beruhigende Wirkung. Wer sich darauf einlässt, der erfährt das Frommsche ’Sein’, ohne das ’Haben’. Er transzendiert den künstlerischen Willen und macht die Erfahrung der Stille, dem ursprünglichen Zustand des Selbst,” so die Künstler.

 

 

ALLES FÜR DIE KUNST

Die Aktion GIMME SHELTER hat die Dimension eines Kunst-Großprojektes. Joseph Beuys lies ’82 in Kassel 7.000 Bäume Planzen, Christo und Jean Claude haben den Reichstag und ganze Inseln verhüllt. Danny Vouh hat vor ein paar Jahren die Freiheitsstatue in Originalgrösse nachgegossen und stellt sie in Einzelteilen aus (etwa nur eine Hand, oder die Nase und Lippen, für die allein es riesiger Ausstellungsräume bedarf). Aber spielt ’Brücke Brandenburg’ in dieser Liga? Wie konnte es dem Künstlerkollektiv gelingen, ein Projekt dieser Grössenordnung zu realisieren? Und wie haben sie es geschafft, dass ganze bis zum Eröffnungstermin geheim zu halten? Christo wirft bei solchen Gelegenheiten die Medienmaschinerie an und stellt Monate, wenn nicht Jahre vorher sicher, dass die ganze Welt von seinen kühnen Unternehmungen erfährt. Ganz anders Brücke Brandenburg. Es war ihre Intention, die Bürger zu überraschen und sie quasi über Nacht vor das Rätsel der einfarbige Litfaßsäulen zu stellen. Teil der Arbeit, so erklären sie, ist der bewusste Verzicht auf das “Priming” der Betrachter, also das gezielte Vor-Programmieren der Wahrnehmung durch Information und die daraus entstehende Erwartungshaltung. GIMME SHELTER soll den Passanten unvorbereitet treffen, soll ganz ursprünglich, ohne Vorwissen erfahrbar sein. Nichts sollte im Vorfeld über die Aktion bekannt werden, die Medien wurden bewusst ferngehalten, und im Internet sind nur spärliche Informationen zu finden.

Dazu Brücke Brandenburg: “Bei dieser Aktion schielen wir nicht auf den Kunstbetrieb, im Gegenteil. Wir wollen, dass jeder Fussggänger, jeder Auto- oder Fahrradfahrer, auch ganz ohne Vorkenntnis zeitgenössischen Kulturschaffens, die ganz individuelle Kunsterfahrung machen kann. Wir haben bewusst auf den weltweiten Medienrummel verzichtet, zugunsten der Authentizität unsere Arbeit.”

WENN KUNST ERSCHEINT

In Wahrheit geht die Geschichte so: die Wall AG, die alle Litfaßsäulen 15 Jahre lang bekleben durfte, hat im Januar ihr Mandat verloren, weil der Berliner Senat das Werbeflächengeschäft neu ausschreiben musste. Der Zuschlag ging an eine andere Firma, die ihre grösseren Säulen gleich mitbringt. Wall ist nun verpflichtet, ihre alten Säulen zu entsorgen und hat sie bis zur Demontage einfarbig tapeziert.
Banaler könnte die Geschichte kaum sein. Nicht Künstler haben die Säulen gestaltet, sondern die Betreiber selbst. Die Säulen sind nicht Teilnehmer einer offiziellen Kunstinstallation, sondern Verlierer, die nicht mehr gebraucht werden.


Dann ist das Mega-Event mit den monochromen Litfaßsäulen, die über Nacht in der gesamten Stadt auftauchten, ein Naturereignis. Quasi völlig unbeabsichtigt. Da hat das Zusammenspiel von behördlicher Verordnung (nämlich die Säulen ausser Betrieb zu nehmen) und Pragmatismus (alte Plakate zu überkleben, anstatt den Kunden ein paar Wochen gratis zu schenken) zu einem wunderbaren Kunst-Event geführt. Ohne zu wissen hat die Stadt einen einzigartigen Ausstellungsraum geschaffen, das nenne ich einen historischen Glücksfall. Es musste nur noch jemand kommen, der den Raum besetzt; jemand, der die Säulen-Stilllegung umdeutet, mit anderen Inhalten füllt und die ganze Sache zur Kunst erklärt.



(Wikipedia: Weitere Verwendung der Säulen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Während der Kriegsjahre 1870/71 wurden hier die ersten Kriegsdepeschen veröffentlicht. Litfaßsäulen hatten auch die zusätzliche Funktion als Telefonkabelverzweiger oder Transformatorenstation durch Nutzung des Innenraumes des Hohlzylinders.
Der vor über 150 Jahren geschaffene Werbeträger erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit. Ende 2005 gab es nach Angaben des Fachverbandes Außenwerbung etwa 51.000 Litfaßsäulen in Deutschland. Auch im Berliner Stadtbild sind Litfaßsäulen weiterhin präsent. Bis zum Jahr 2019 standen hier noch etwa 2.500 Säulen, die auf Grund eines Betreiberwechsels jedoch überwiegend abgebaut und durch etwa 1.500 neue Modelle, teils an anderen Standorten, ersetzt werden. Im Zuge dieser Neuordnung der Werberechte im öffentlichen Raum durch den Berliner Senat wurden 50 historische Litfaßsäulen unter Denkmalschutz gestellt.[1]
In Wien existieren zahlreiche Litfaßsäulen im Bereich des gedeckt verlaufenden Wienflusses, um die dort als Notausstieg aus der Tiefe führenden steinernen Wendeltreppen zu überdachen und sie vor unbefugtem Betreten zu schützen. Die Litfaßsäulen sind mit einer Tür versehen, welche sich von außen nur mit einem Schlüssel, von innen jedoch auch ohne öffnen lässt.
Heute gibt es sich nach innen öffnende Säulen, die man Pillar nennt. Im Innenraum sind Terminals oder Telefone installiert. Diese sogenannten Stadtmöbel setzen damit die Tradition der Funktion als direkte Dienstleistung fort.

Eine weitere Verwendung der Litfaßsäulen wird seit 2015 in Nürnberg praktiziert: Im Innenraum befinden sich öffentliche Toiletten, die für eine geringe Gebühr von jedermann benutzt werden können.[2]